Humanitärer Ostereinsatz in Rumänien
7. Reise – April 2011
Es ist für uns von «Rettet Kinder» bereits zur Gewohnheit geworden, dass wir einmal jährlich einen humanitären Einsatz für unser Hilfswerk, direkt in Rumänien vor Ort leisten. In diesem Jahr nutzten wir den verlängerten Osterurlaub dafür. Dies bedeutet, dass wir einen Lieferwagen voll von Waren die uns von Freunden anvertraut wurden, nach Oderheiu Secuiesc fahren. Mit Ausnahme der Fahrzeugkosten natürlich alles auf eigene Rechnung.
Diese Warentransporte sind nebst den monatlichen Geldspenden ebenfalls sehr wichtig. Unsere Besuche vor Ort dienen uns ebenfalls dazu um uns von den Verhältnissen vor Ort ein Bild machen zu können. Als verantwortungsvolles Hilfswerk wollen wir uns vor Ort überzeugen, ob z.B. die Spenden in unserem Sinne eingesetzt werden oder wie die Entwicklung der Kinder von sich gehen. Dazu gehört auch die Einsicht in die Bücher und das persönliche und detaillierte Gespräch mit Zsuzsa Orban, der Gründerin und Heimleiterin unseres Hilfsprojektes Bice Boca (kleine Schritte).
2011 ist für uns von «Rettet Kinder» ein besonderes Jahr, in dem wir stolz auf die 10-jährige Tätigkeit zurückblicken dürfen. 2001 wurde «Rettet Kinder» von Hans und Marie-Therese Hofstetter, Judith Krauer, Vincent Blum und Stephan Meyer gegründet. Diese Tatsache nahmen wir zum Anlass, um gemeinsam mit einer handvoll aktiven Spendern nach Oderheiu Secuiesc zu fahren und den Warentransport durchzuführen.
Die rund 1900km ab der Schweiz haben wir in nur 2 Tagen zurückgelegt. Die Strecke ist uns langsam bekannt und auch die Übernachtungsmöglichkeiten unterwegs. Mehr oder weniger war der Verkehr recht flüssig, abgesehen vom Feierabendverkehr bei Budapest. Auch von Pannen blieben wir bis auf den Steinschlag in Ungarn, den unsere Scheibe leider nicht ganz schadlos überstand, verschont. Wie immer bei unseren Besuchen sind wir in der bescheidenen Pension von Csaba und Gyöngie Bartha in Ocland, einem kleinen Bauerndorf ca. 25km von Oderheiu Secuiesc, untergebracht. Diesmal hatte sie etwas viele Gäste und daher mussten einige von uns im Wohnzimmer auf dem ausgezogenen Sofa schlafen. In Ocland stellen wir im Vergleich zu unserem ersten Besuch (2004) fest, dass immerhin die Hauptstrasse durchs Dorf mittlerweile geteert wurde und ein paar einfache Bauernhäuser neu sind. Hie und da wurde ein Dach renoviert und die eine oder andere Regenrinne ersetzt. Ansonsten ist das einfache Bauerndorf vom Fortschritt leider verschont geblieben. Was aber besonders bemerkenswert ist, ist die herzliche Gastfreundschaft die uns «Ausländern» von allen Einheimischen entgegengebracht wurde. Wenn ich frühmorgens auf meiner Fotopirsch die Bauern und Bäuerinnen fotografiere wie sie ihre Milch in die dorfeigene Milchzentrale karren, erhalte ich immer ein freundliches Lächeln mit einem «Jo napot» (guten Tag) und auch mal einen sympathischen Händedruck. Wenn wir uns unterhalten könnten, dann gäbe das bestimmt herzliche Gespräche.
Das Treffen am dritten Tag mit Zsuzsa und ihren Kindern war besonders herzlich. Mit einer warmen Umarmung hat sie uns willkommen geheissen, denn sie hat uns schon lange sehnsüchtig erwartet. Auch ihre Eltern waren gekommen um uns zu empfangen. Im ersten Stock spielten rund ein dutzend der Kinder in zwei Zimmern oder tanzten zu Musik die sie ab CDs hören. Die meisten Kinder sind uns sehr vertraut und bekannt seit unserem ersten Besuch vor sieben Jahren. Es ist wunderbar zu beobachten welchen Fortschritt sie in den Jahren machten und welche Lebensfreude, die sie trotz ihrer zum Teil schweren geistigen Behinderung, ausstrahlen.
Das älteste Mädchen im Heim heisst Tünde und ist 24 Jahre alt. Sie kann als einzige der Kinder lesen und schreiben, obwohl sie auf dem geistigen Niveau eines neunjährigen Kindes geblieben ist. Sie hat verschiedene Armbändchen aus Faden gebastelt. Wir dürfen alle eines auswählen und sie bindet es uns als Dank um das Handgelenk. Veronica ist ein Mädchen mit Autismus. Bei unserem ersten Besuch vor Jahren sass sie auf der Treppe, war ziemlich apathisch und starrte einfach ins Leere hinaus. Heute bei unserem Besuch tanzte sie mit uns, zeigte uns ihr schönstes Strahlen im Gesicht und klatschte mit uns vor Lebensfreude. Der junge Kletterer, Loli, der damals immer auf unsere Schultern klettern wollte um möglichst weit nach oben zu kommen, ist immer noch gleich. Für ihn war es das Grösste wenn Jan ihn hochhob und er mit seinen Händen die Decke berühren konnte. Die jüngsten zwei Kinder sind noch in den Windeln und auch für uns noch unbekannt. Das Mädchen Orsi hatte eine schlimme Hasenscharte bei der Geburt und musste schon zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen. Aber sie macht sehr gute Fortschritte und wird dadurch ein normales Gesicht erhalten mit dem sie nicht entstellt ist. Orsi ist nicht behindert, aber ihre Eltern können die nötige Zeit während den rund 6 Operationen nicht aufbringen und darum darf Orsi im Heim bei Zsuzsa bleiben. Für die Operationskosten kommt der rumänische Staat auf. Besonders bewegt hat uns der Zustand von Zolika. Uns viel sofort auf, dass seine Hände hinter dem Rücken mit einem Tuch zusammengebunden waren. Auf unsere Frage warum das so sei, erklärte uns die Betreuerin, dass es auf seinen eigenen Wunsch geschieht, er würde sich sonst wehtun. Sie demonstrierte es uns und löste seine Fessel. Schon beim Lösen schrie er verängstigt und kaum befreit davon, schlug er sich pausenlos mit seinen Fäusten auf den Kopf. Erst als die Arme wieder hinter dem Rücken zusammengebunden wurden, beruhigte er sich wieder und fühlte sich wohler.
In der Stadt Oderheiu Secuiesc (rund 38'000 Einw.) ist Bice Boca das einzige Heim für behinderte Kinder. Hier werden von Zsuzsa und ihrem Team von rund 25 Lehrerinnen, Physiotherapeutinnen und Pflegerinnen zurzeit 62 behinderte Kinder betreut. Der weitaus grösste Teil ist nur tagsüber hier und wird abends von den Eltern wieder abgeholt. 20 Kinder sind auch über Nacht im Heim, davon sind 12 von Zsuzsa adoptiert, weil sie von ihren Eltern verlassen wurden. Hier erhalten sie dringend notwendige Therapien, Bewegung, leichte schulische Bildung sofern möglich und gesundes Essen.
Das Ausladen des Lieferwagens war für den Nachmittag vorgesehen. Zuerst wurden wir allerdings von Zsuzsa’s Eltern aus Gastfreundschaft mit selbstgemachtem Käse und einer feinen Suppe reichlich verwöhnt. Dann halfen alle mit und der grosse Lieferwagen wurde geleert. Vorerst werden die Waren in einem Schuppen zwischengelagert und nach Ostern sortiert. Was das Heim brauchen kann, kommt natürlich ins Heim. Die anderen Waren verschenkt Zsuzsa entweder an das lokale Kinderspital oder an bedürftige Eltern von denen es hier mehr als genug gibt.
Bevor wir wieder die lange Reise zurück antreten, nutzen wir noch einen Tag des Osterfestes um die nähere Umgebung von Ocland anzuschauen. Die beschwerlichen Strassen auf dem Land gleichen mit ihren tiefen Löchern einem Emmentaler Käse. Egal ob geteerte Strassen oder ungeteert, Löcher gehören offenbar dazu. Es kann sein, dass der lange und tiefe Winter schuld daran ist, denn bis Ende März war es hier minus 20 Grad. Andererseits glaube ich viel eher, dass es einfach dem Staat am Geld fehlt um diese Strassen zwischen den Dörfern zu erneuern. Dennoch sind wir ein paar Kilometer weit gekommen und konnten zwei schöne Kirchen auf dem Land besuchen. Bei unserer Ankunft war gerade die Ostermesse fertig und die Bevölkerung trat heraus. Wie es hier Brauch ist, zuerst die Frauen und dann die Männer. Alle stellen sich vor der Kirche auf wo sie sich gegenseitig schöne Ostern wünschen und sich vom Pfarrer verabschiedeten. Als der Pfarrer bei uns war und feststellte dass wir aus der Schweiz sind, wünschte er uns nicht nur schöne Ostern, sondern sagte auch in gutem Deutsch «herzlich willkommen».
Am Abend besuchten wir in der Nachbarsgemeinde von Ocland die katholische Kirche und durften mit rund 20 Einheimischen die Ostermesse zelebrieren. Auch wenn wir dabei kein Wort verstanden hatten und von weitem als Ausländer zu erkennen waren, so wurden wir in die lokale Gemeinschaft aufgenommen und integriert. Kinder aus dem Dorf lasen verschiedene Evangelien vor, der Männerchor (2 Bauern) sang zur Orgelmusik, dann wurde die Osterkerze gesegnet und in Begleitung von Weihrauch zog die ganze Gemeinschaft inkl. der paar Ausländer dreimal um die Kirche. Jedes Mal wenn wir dachten nun ist die Messe zu Ende, ging es weiter und zu unserem Erstaunen dauerte die Ostermesse über 2 Stunden.
Langsam heisst es nun aber die Rückreise anzutreten. Von Zsuzsa und den Kindern im Heim haben wir uns verabschiedet. Proviant haben wir eingepackt und sind nun bereit für die 1900 km vor uns liegende Rückreise, immer Richtung Westen. Und auch wenn nun unser Lieferwagen leer ist, so sind unsere Herzen voll von bewegenden Eindrücken aus Rumänien und unserem Hilfsprojekt. Eindrücke die uns in Erinnerung bleiben werden und die wir versucht haben mit Fotos zu dokumentieren. Ganz besonders aber ist die Erkenntnis, was «Rettet Kinder» in den letzten 10 Jahren dank seinen zahlreichen Spendern bewegen und bewerkstelligen konnte. Welche Nachhaltigkeit wir entwickeln konnten und welche Lebensfreude «Bice Boca» (kleine Schritte) den behinderten Kindern zurückgeben kann. In diesem Sinne, danken wir Zsuzsa und ihrem Team für ihren unermüdlichen Einsatz, aber auch allen Spenderinnen und Spendern die «Rettet Kinder» finanziell und materiell unterstützen.
Stephan Meyer, Ocland, 25. 4. 2011